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Samstag, 3. Oktober 2020

Die Nacht, in der die Mauer fiel

Die Nacht, in der die Mauer fiel 

(c) Gudrun Anders

Ich kann es kaum glauben: Über 30 Jahre soll der Mauerfall mittlerweile her sein? Die inneren Bilder in mir zu dieser Nacht sind nämlich noch immer so lebendig, als sei diese völkertrennende Mauer erst letzte Woche gefallen.

Aber von vorn. Ich bin in Lübeck geboren und aufgewachsen. Lübeck ist eine kleine Hafenstadt an der Ostsee und liegt direkt an der Grenze zur ehemaligen DDR. In den ersten 28 Jahren meines Lebens kenne ich es nicht anders, als das Lübeck – der alten Hansestadt hoch im Norden Deutschlands – eine Richtung fehlt: Die Wege in Richtung DDR waren versperrt und ich bin noch in dem täglichen Wissen aufgewachsen, dass es hindernde und trennende Grenzen gibt. Und das geschossen wird. Dass es grimmig dreinblickende Soldaten gibt, die Deutsche nicht zu Deutschen lassen, was ich als Kind gar nicht verstehen konnte. Dass Familien durch eine Sperrzone mit Minen getrennt sind und sich nicht sehen und nicht sprechen können. Dass Fahrten nach West-Berlin mit strengsten Kontrollen und kompletter Demontagen der West-Fahrzeuge einher gingen. 

Ich bin damit aufgewachsen, dass an unserem Lieblingsstrand auf dem Travemünder Priwall die Grenzer mit Gewehren im Anschlag patrouillierten und wir uns zu benehmen hatten, damit wir keinen – womöglich tödlich endenden – Zwischenfall an der deutsch-deutschen Grenze hervor riefen.

Ich war damals 28 Jahre alt und gerade mit einem „Ossi“ leiert. Der damals 31jährige war unter Aufbietung all seines Mutes mit nur einem kleinen Köfferchen und wenigen Habseligkeiten am Leib bei Nacht und Nebel über die ungarische Grenze aus der DDR geflüchtet, um dann wieder nach Norden zu gehen, um seiner Familie – auch wenn er sie nicht mehr besuchen konnte! – so nah wie nur möglich zu sein. 

Die Geschichten der DDR waren mir damals sehr vertraut. Lange Warteschlangen um die wenigen Güter zu bekommen, immer ein Gefühl des Mangels und der Angst. Mein Onkel hatte zwar ein schönes Haus mit Swimmingpool, aber manchmal keine Zahnpasta. Versorgt sein und ein Gefühl von Freiheit – und war das Gefühl auch noch so klein – schien für die Bürger der DDR offenbar nicht möglich oder von Angst begleitet gewesen zu sein. 

Bereits einige Tage bevor die Grenzen ganz auf gingen, war schon eine gewisse Unruhe bei den Menschen in West und Ost zu bemerken. Viele Menschen, die ich damals kannte, hatten Bekannte oder Verwandte in der DDR. Auch Teile meiner Mutters Familie waren DDR-Bürger, die wir alle Jahre wieder im Tarnmäntelchen – soweit wir „Wessis“ uns dort überhaupt ein kleines bisschen unsichtbarer machen konnten – in einer großen Stadt wie Leipzig trafen. 

Damals war es schon praktisch, Verwandte im Westen zu haben – die reservierten Plätze in einem leeren Lokal waren gegen Reichung kleiner monetärer West-Gaben, die man später hervorragend tauschen konnte, plötzlich nicht mehr reserviert und übereifrige Kellner machten uns schnell Platz und deckten die Tische frisch ein. Und für die DM gab es ganz andere, viel bessere Menüs zu essen ...

In der Nacht als die Grenzen aufgingen, saß ich abends mit Freunden zusammen. Wir spielten Karten und machten uns einen gemütlichen Abend. Es war schon recht spät, aber es klingelte an meiner Wohnungstür. Mein Vater, zu dieser Zeit sonst längst im Bett, stand da – ganz aufgelöst und ich dachte zunächst, es sei etwas Schlimmes passiert. Aber er sagte einfach nur: „Die Grenze ist auf!“

Wir konnten es nicht glauben und wollten an die Lübecker Grenzübergänge fahren, um uns selbst davon zu überzeugen, aber so weit kamen wir gar nicht, denn es fuhren Hunderte – nein: Tausende – Trabbis und Wartburgs durch die Straßen. 

Zu Fuß liefen wir in die nahegelegene Lübecker Innenstadt und trauten unseren Augen nicht. Bereits am Rande der Innenstadt hörten wir mächtigen Lärm. In nahezu allen Wohnungen brannte Licht, Menschen schauten auf die bevölkerten Straßen hinunter, Musiklärm, Fußballtröten und Fahnen, die aus den Fenstern hingen, jubelnde und feiernde Menschen wohin man nur sah.

Die Straßen waren voller als voll. Unbekannte Menschen flogen sich in die Arme, die Westdeutschen brachten alles an Obst und Gemüse, Sekt und Alkohol aller Art mit auf die Straßen und verteilten sie an die Fremden, die plötzlich auch „richtige“ Deutsche waren. Es war ein immenses Freudenfest, das mich sprachlos vor Erstaunen machte. Und traurig, denn hinter all dem Jubel und der noch vorhandenen Fassungslosigkeit steckte auch große Sorge um die Zukunft. Und die Angst vor der nahen Veränderung. 

Ich blickte in tränenüberströmte Gesichter, mit Augen, die viel Leid und Entbehrung erfahren hatten und in denen der Keim der Hoffnung zu sehen war. Bleiche Gesichter und magere Menschen, die teilweise so ungesund aussahen, als wenn sie lange krank gewesen waren und seit Jahren keine Sonne gesehen hatten. In dieser Nacht machte es uns keine Mühe, „Ossis“ und „Wessis“ zu unterscheiden.

Die Menschen kamen zu mir, die ich immer noch am Straßenrand stand, fragten mich, wie es sich hier im Westen so lebt. Und ob man hier schnell eine Wohnung finden könne, denn hier sei es ja so viel besser. Und wie lange man denn ein Auto vorbestellen müsse, wenn man eines haben wollte. Sie fragten, was wir in der Freizeit machen und ob ich glaubte, dass nun alles besser werde würde.

Ehrlich gesagt war ich mir in dieser Nacht darüber nicht so sicher, denn keiner von uns wusste zu diesem Zeitpunkt, ob die Grenzen wirklich und wahrhaftig offen blieben. Keiner wusste, wie wir uns zusammenraufen würden und wie es weiterging. Und niemand wusste, was uns erwartete, denn der Freudentaumel über die Wiedervereinigung würde sicherlich nicht ewig anhalten.

Bis weit in die Nacht hinein standen wir in den Straßen und feierten die Neuankömmlinge, deren Strom einfach nicht nachlassen wollte. Ich hatte damals während der neu etablierten Altstadtfeste schon riesige Menschenmengen in der Innenstadt feiern gesehen, aber diese Nacht schlug alle Besucherrekorde um Längen. Die Polizei sperrte die Innenstadt ab, um die Unmengen an lachenden und weinenden Menschen einigermaßen im Griff zu halten. 

Am nächsten Morgen ging ich eine Stunde früher als gewohnt in mein kleines Lädchen in der City. Der Weg dorthin war mehr als merkwürdig! Es war nicht ein „deutsches“ Auto auf den Straßen. Kein Ford, kein Golf, kein Mercedes. Überhaupt kein bekanntes Auto war auf den Straßen der Stadt! So weit das Auge reichte, in mehreren Reihen neben- und hintereinander, auch auf Rasenflächen standen nur Wartburgs und Trabbis. 

In der Luft hing ein schwarzer Dunst, der nie zuvor dagewesen war. Wo waren bloß all die Autos der Lübecker Bürger hin? Die waren wahrscheinlich soweit es ging in den Osten des Landes gefahren, um zu schauen, wie es dort aussah. Wahrscheinlich standen im Osten ein paar Menschen und freuten sich über die Toyotas und Opel, die sich wie ein riesengroßer Auto-Wurm ins Land schlängelten. 

Ich hatte vorsorglich meine Freundin angerufen, um mir zu helfen. Ich ahnte, dass an diesem Tag etwas mehr als sonst los sein würde. Wir hatten damals gemeinsam einen kleinen esoterischen Laden mit Büchern, ätherischen Ölen und Entspannungsmusik in der Lübecker Altstadt.

Kaum hatten wir die Ladentüren geöffnet, war unser Laden voll. Proppenvoll, um es genau zu sagen. Mittags war er so voll, dass wir kaum von einer Seite zur anderen kamen. Ich bin sicher, dass Polizei oder Gewerbeamt uns Schwierigkeiten gemacht hätten ob der Menschenmassen in dem kleinen Lädchen. 

Kunden bedienen und wirklich zu beraten, war uns an diesem Tag kaum möglich, denn Dutzende andere Menschen wollten gleichzeitig etwas wissen, beraten werden oder ihre Waren bezahlen. Wir kamen nicht einmal dazu unsere Aushilfe anzurufen, wahrscheinlich wäre sie auch nicht bis zu uns durchgedrungen. Mittagessen oder überhaupt eine kleine Pause bekamen wir erst wieder am frühen Abend, als der Besucherstrom langsam abebbte. 

Wir waren so fertig, dass wir den Laden schlossen und uns erst mal hinsetzten um zu verschnaufen. Langsam schauten wir uns unseren ansonsten liebevoll eingerichteten Laden an: leere Regale und Auslagen, geplünderte Schaufenster, offenstehende Vitrinen, umgefallene Bücher, leere und aufgerissene Verpackungen überall verteilt. Wir hatten keine einzige Duftlampe mehr im Regal stehen und auch die Duft-Öle und Pendel waren ausverkauft.

Erschöpft sahen wir die Geldscheinberge in unserer Kasse, zählten voller Genuss unsere Tageseinnahme und jubelten: Wir hatten mehr als den fünffachen, normalen Tagesumsatz gemacht und damit unser Geschäft aus einer kleinen Krise herausgeholt.

Auch in den folgenden Wochen und Monaten hatten wir stetigen Besuch von den Menschen aus Ostdeutschland, die mehr wissen wollten über spirituelle und esoterische Dinge, da es damals bei Ihnen im Osten keinerlei Informationen dazu gab und ein entsprechender Nachholbedarf bestand. 

Nach und nach normalisierte sich unser Leben in Grenznähe wieder. Aber die Dinge waren und wurden anders, aber eigentlich fehlten sie uns nicht. Es gab keine Grenzen mehr und keine Gewehre. Keine Schusswechsel, wenn mal wieder jemand versuchte zu flüchten oder ein Grenzer ein Häschen mit einem flüchtenden Menschen verwechselte. Die Stacheldrahtzäune wurden demontiert, das Niemandsland zwischen den Grenzen aufgehoben. 

Wir hatten freie Fahrt in den Osten und vor allem nach Berlin, wo wir als junge Erwachsene häufig gewesen waren. Erkundungsfahrten nach Ostdeutschland, denn dort ging ja auch die Ostsee weiter und es gab viel, sehr viel Neuland zu entdecken. Und es gab keine Grenzer mehr, die am Priwall-Strand Patrouille liefen – der Strand wurde viel weiter und natürlich auch bevölkerter.

Bilder aus dieser Zeit habe ich leider keine. Aber die brauche ich auch nicht. So viele Erinnerungen aus dieser Nacht der Nächte sind in meinem Inneren noch immer lebendig. Dutzende Male habe ich davon erzählt und werde es wohl bis an mein Lebensende immer wieder tun, denn diese unvergessliche Nacht hat nicht nur mein Leben für immer verändert. 

Ich bin sehr dankbar, dieses weltbewegende Ereignis so hautnah miterlebt zu haben. 

© Gudrun Anders, www.gudrun-anders.de




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