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Eine weihnachtliche Kurzgeschichte von Gudrun Anders
Gestern war ich erstmals bei einer Bekannten zu Besuch. Ich sah
mich ein wenig in ihrer modern gestalteten Wohnung um und bewunderte einen
kleinen Beistelltisch, der weihnachtlich geschmückt war.
Mir fiel ein Teelicht
in der Mitte des Tisches auf, das auf einem verzierten Holzbrett in ein großes
Glas eingelassen war. Im Glas sah ich kleine Tannenzweigchen und etwas Weißes,
das ich von Weitem nicht so genau identifizieren konnte. Ich ging ein Stückchen
näher und ein wenig um das Tischchen herum. Erst dann konnte ich erkennen, dass
ein kleiner, freundlich lächelnder Engel inmitten der Tannenzweige und einem
kleinen Goldkettchen stand.
Spontan entfleuchte es mir: „Ach, der ist aber süß!“ Meine
Bekannte verzog kein Gesicht und goss uns derweil einen Tee ein. Ich besah mir
noch immer das kleine Engelchen. „Aber so eingesperrt … - ob der Engel sich da wohl fühlt?“ Das war
mehr als Witz gemeint, sie lachte aber nicht. Irgendwas war im Busch …
Statt einer Antwort sagte sie – ganz der Coach, der sie war:
„Naja, aber das Glas ist ja auch ein Schutz für das zarte Wesen. So hat das
Engelchen einen Rückzugspunkt.“
Hm, dachte ich, das stimmte natürlich auch. Schön eingebettet
in ein natürliches Umfeld, vergleichbar mit der eigenen Wohnung oder dem
eigenen Haus, in dem es sicher war, da konnte man sich sicher gut zurückziehen.
„Aber der Engel sieht doch nach draußen. Sieht das Gute und natürlich auch das
Schlechte. Und der kommt da nicht raus. Keine Tür im Glas. Der liebe Gott muss
da erst mal das Teelicht entfernen, bevor der Engel fliegen kann.“ Ich sah es
immer noch als intellektuelles Spielchen an, das unsere Kreativität hervorrief.
Meine Bekannte hatte sich inzwischen gesetzt, bedeutete mir
es ihr gleich zu tun und besah sich dann auch wieder das Teelicht, in dem der
Engel, der noch immer lächelte, gefangen war. „Der kann sich doch wunderbar
jetzt über die Weihnachtstage in seinem Häuschen entspannen. Gut gelaunt tun,
was ihm gefällt … Mit der Natur im Einklang und aus der Distanz heraus neue
Pläne schmieden oder auch zu neuen Ideen kommen. ….“ Ihr Gesicht sah sehr
nachdenklich aus.
Ich ging auf das Spielchen ein. „Mein Engel würde
klaustrophobisch werden, auch wenn man das den Engeln ja normalerweise nicht
nachsagt. So eingesperrt und abhängig von einem Gott, der vielleicht auch
Weihnachtsferien macht und nicht da ist. … Ich finde, der Engel gibt da seine
Macht komplett auf. Er kann doch gar nichts mehr tun …“
Meine Bekannte verzog ein wenig das Gesicht. Würde man sehen
können, wie es im Kopf arbeitet, dann wäre jetzt gerade eine Phase der Hochkonjunktur
bei ihr gewesen. „Nicht schön, oder?“, meinte sie und jetzt entstand ein
zaghaftes Grinsen auf ihrem Gesicht.
„Für mich nicht“, antwortete ich ihr. „Engel müssen fliegen
und Gutes tun. Vor allem zur Weihnachtszeit!“
Sie stand so schnell auf, dass ihr Stuhl umflog und mit
einem lauten Knall zu Boden fiel. Schnurstracks ging sie zu dem kleinen
Beistelltischchen, nahm den Engel aus dem Glas und stellte ihn auf ein
weihnachtlich geschmücktes Tablett mit Äpfeln, Tannenzweigen, Clementinen und
Walnüssen. Dann nahm sie einen Apfel und packte ihn ins Glas. „So, jetzt kann
er wieder tun, wozu er auf dieser Welt ist!“, rief sie aus und freute sich wie
ein kleines Kind.
Möge der Engel zu dir, lieber Leser, liebe Leserin fliegen
und dir zu Weihnachten eine wunderschöne Zeit bescheren!
Eure
Gudrun Anders