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Kurzgeschichte © Gudrun Anders
In Japan kam vor vielen Jahren ein Unternehmer zum Meister und sprach: „Meister, ich benötige einen Rat. Das Leben ist ein einziger Kampf für mich. Zwar bin ich ein sehr reicher Mann, aber alle Menschen wollen mir Böses. Sie sind nicht gut zu mir.“
Der Meister antwortete schlicht: „Hör‘ auf zu kämpfen.“
Dem Mann reichte diese Antwort nicht. Er war ärgerlich ob dieser kurzen Antwort und stapfte schweren Schrittes davon. Die folgenden Monate waren hart: Er kämpfte um jeden noch so kleinen Auftrag und machte sich etliche Feinde. Am Ende seiner Kräfte kam er ein Jahr später erschöpft wieder zum Meister.
„Herr und Meister, ich mag nicht mehr kämpfen und ich kann es auch nicht mehr. Das Leben ist eine einzige Last. Bitte hilf mir.“
„Ganz einfach: Erleichtere dich von dieser Last.“
Der Unternehmer war wieder verärgert. Er verstand die Antwort nicht und ging. Im folgenden Jahr wurde alles noch schlimmer und er verlor seine Firma. Aber damit nicht genug. Auch seine Frau verließ ihn. Die Kinder nahm sie natürlich mit. Vollkommen mittellos kam er wiederum ein Jahr später zum Meister zurück.
„Herr, jetzt ist das Leben keine Last mehr für mich. Ich habe alles verloren, was mir wichtig war. Das Leben ist ein einziges Elend, ein einziges Leid.“
„Dann höre auf zu leiden.“
Dieses Mal war der Mann nicht ärgerlich, sondern nur noch traurig über die knappe Antwort des Meisters, die ihm auch in diesem Jahr nicht weiterhalf.
Er ging, aber er ging nicht weit. Am Fuße des Berges blieb er sitzen und weinte und weinte. Er weinte viele Tage und Wochen, ja sogar mehrere Monate.
Als seine Tränen getrocknet waren und keine einzige Träne mehr kommen wollte, hob er den Blick und sah zum ersten Mal die wunderschöne Natur. Es war früh an Morgen, die Sonne ging gerade auf. Langsam stand er auf und ging zurück zum Meister.
Diesmal jammerte er nicht, sondern fragte den alten Mann: „Herr, was ist Leben?“
Da lächelte der Meister liebevoll und sagte: „Leben ist, wenn die Sonne jeden Morgen aufgeht und einer neuer Tag beginnt.“
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Auf die Absicht aller Dinge,
nicht auf den Erfolg blickt der Weise.
Lucius Annaeus Seneca
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Diese Geschichte stammt aus dem Buch: „Legenden am Lagerfeuer“ von Gudrun Anders, ISBN 978-3-945104-00-2, Erstausgabe Februar 2014. Nachdruck - auch auszugsweise - nicht gestattet.
Print: https://www.epubli.de/shop/autor/gudrun-anders/4172
E-Book pdf: http://www.xinxii.com/adocs.php?aid=11180
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